In memoriam David Lynch
“This is the Girl.“ – „We‘ll pretend to be someone else!”
„Mulholland Drive“
(David Lynch / 2001 / Blu Ray / englischsprachige Originalversion)
“I know, I know we’re lost / I know, I know we’re lost
I can’t help myself when we drive / Oh, don’t hold us back, this midnight drive
You see the stars are out tonight / You see the stars are out tonight”
(Still Corners, „Midnight Drive“)
Es gibt diese Filme, denen wohnt eine unvorstellbare Kraft inne. Eine soghaft Dich fortziehende Energie, wie eine unter der Oberfläche verborgene Unterströmung, die Dich ganz langsam, kaum merklich packt, bis es dann zu spät ist, und Du ihrem Dich in die Tiefe mitreissenden, allesverschlingendem Strudel nicht mehr entkommen kannst. „Mulholland Drive“ ist für mich ein solcher Film. Das in der Nacht von gestern auf heute stattgefundene Anschauen des Films hat mich bis weit über alle meine Grenzen geführt, bis über jedes zumutbare Maß hinaus an einen Punkt tief in mir selbst, an dem ich lange nicht mehr gewesen bin, und diese Sichtung mich als ein kleines wimmerndes Häuflein Elend, unkontrolliert zitternd und tränenüberströmt zurückgelassen. So bereichernd belohnend und erkenntnisreich erhellend das Ansehen auch war, so intensiv aufreibend und kathartisch kräftezehrend ist es doch ebenso auch gewesen. Ich bibberte wie Espenlaub, wie Betty auf ihrem Sessel im Club Silencio mich konvulsisch zuckend hin-und herwerfend, als sie endlich der unausweichlichen, endgültigen Erkenntnis gewahr wurde, ich weinte lautschluchzend und aufheulend, ich hatte Gänsehaut am ganzen Körper, ich durchlitt beängstigend bedrohliche Beklemmungszustände. Vielleicht eine der eindringlichsten und emotionalsten Filmsichtungen, die ich je (und extrem selten in einer solchen Furiosität) erlebt habe. Dabei war das erst meine vermutlich vierte Sichtung von Lynchs (für mich) unumstrittenen Opus Magnum. Stand jetzt wäre „Mulholland Drive“ für mich persönlich, sollte ich überhaupt je eine Top Ten-Liste meiner Lieblingsfilme erstellen, wohl auf Platz Drei, gleich hinter Peter Weirs „Picnic At Hanging Rock“ und Andreji Tarkovskjis „Stalker“. Eher ein (mit)empfindendes Erleben, denn blosses Ansehen. Die verzaubernd verstörende, becircend betörende Magie purer Bilder, die virtuos fulminante Macht des Kinos, ein synästhetisch-diegetischer Hochgenuss. Tableaus und Kadrierungen, die Eine:n fast schon direkt in die Narration hinein zu ziehen scheinen, ein Sound Design, was Dich bis in den Tiefschlaf verfolgt, ein majestätisch dunkel schwelgender score (vielleicht Badalamentis bester), der Dich wie auf sonischen Wellen hinfort trägt, in eine halb erträumte, halb metaphysische Welt von Liebe, Eifersucht, Neid, Spott, Hass und Begehren. Was für ein meisterlicher Schnitt auch, welcher dem Streifen einen unglaublich gut austarierten, perfekt passenden Rhythmus vorgibt. „Mulholland Drive“ ist absolute Filmkunst auf allerhöchstem Niveau zelebriert, der Zenit von Lynchs Schaffen, ja, hier und jetzt würde mich sogar zur Aussage hinreissen lassen, der ein Zenit des Kinos überhaupt. (M)Ein Film für die Ewigkeit.
Überdeutlich und all over the movie, ist „Mulholland Drive“ (neben seiner tragischen love story) vor Allem auch ein Film über das Filmemachen, das Erschaffen von Träumen und Illusionen, das movie business und dessen Auswirkungen auf die Schaffenskraft und Kreativität von Filmemacher:Innen und Schauspieler:Innen, und das beständige So-Tun-Als-Ob, und gerade dadurch und im Moment dieses pretending to be someone else einer tieferen, anderen Wahrheit dazu zu verhelfen, Wirklichkeit zu werden. Der Produktion von Realität(en) als einer prozessualen Projektion, die das, was sie nachzuahmen vorgibt, ja überhaupt erst ins Leben ruft. Am Schönsten und Fesselndsten sicherlich verkörpert von Naomi Watts (die zusammen mit der nicht minder fabulös aufspielenden Laura Elena Harring den gesamten Film trägt) in der (zuvor mit „Rita“ eingeübten und zu jenem Zeitpunkt noch lächerlich banal aufgesagten) audition scene, in welcher Betty so elektrisierend unmittelbar agiert, dass sie nicht nur die innerhalb der filmischen Wirklichkeit sie umringenden Profis vollkommen aus den Socken haut, sondern auch uns Zuschauer:Innen derart breathtakingly fasziniert, dass ich beinahe schon das Atmen vergaß. Dem Ganzen inhärent natürlich auch eine scharfe Kritik an den Sexismen und misogynen Zumutungen, die gerade junge aufstrebende Schauspieler:Innen in tinseltown ja nur allzuoft erfuhren und vermutlich auch immer noch erfahren. Aber auch die (stellenweise absurd komischen) Sequenzen mit Justin Theroux als (wie Lynch selbst bei Dreharbeiten Megaphon-bewehrtem) Regisseur Adam, der in der freien Ausübung seiner Arbeit andauernd durch die als mafiös auftretend gezeichneten Produzent:Innen behindert, gegängelt und drangsaliert wird, sind Gold wert.
Was an und im Film nun Traum / Fantasma, und was genau inhärent „real“ / Wirklichkeit ist, das ist mir im Grunde genommen immer schon zweitrangig gewesen, und mittlerweile eigentlich vollkommen egal geworden. Weil derlei Fragen für mein filmisches Erleben und Empfinden auch gar keine Rolle spielen. Der von vielen, wenn nicht gar den meisten Rezipient:Innen vertretenen Theorie, dass die ersten zwei Drittel der Story (bis hin zu „Ritas“ Öffnen der Blue Box) nur Dianes herbeifantasierte Traum-Realität sind, weil sie mit ihrer Eifersucht ob des Verlassenwerdens durch Camilla und ihren Schuldgefühlen wegen des darob veranlassten Auftrags-Mords nicht klarkommt, hing ich jedenfalls noch nie an, und tue das auch immer noch nicht. Derlei Erklärungs-Versuche muten mir (trotz der auch bei der heutigen Sichtung wieder wahrgenommenen vielen vielen Hinweise und clues, die allesamt in diese Richtung deuten, sodass ich inzwischen der Auffassung bin, dass diese Lesart wohl doch die von Lynch präferierte / intendierte ist - aber dennoch nicht die meinige) einfach viel zu simpel an, und deuchen mir beinahe schon wie eine Art „David Lynch for dummies“. In meiner Interpretation des Ganzen ist der Symbolismus von „Mulholland Drive“ jedenfalls gar keiner, sondern im Gegenteil beinahe vollkommen als intradiegetisch „real“ zu verstehen. Und gehen meine Deutungen eher in die Richtung von Parallel-Universen / Alternativen Realitäten, die einander an bestimmten Punkten überlappen / deren Wirklichkeiten ineinander überschwappen. Ob und inwieweit das überhaupt irgendeinen Sinn macht, oder nicht, ist für mich dabei aber gar nicht ausschlagggebend. „Mulholland Drive“ bis ins allerletzte Detail aufschlüsseln und enträtseln zu wollen, würde ihm meiner Meinung nach seiner Magie, seines ureigensten Mysteriums, und damit eben auch einem Gutteil seiner immensen Wirkmächtigkeit berauben. Das Rätsel dieses singulär kongenialen Meisterwerks muss für mich auch weiterhin Rätsel bleiben, um seinen impact nicht zu schmälern, und seine herausgehobene Stellung innerhalb der Filmhistorie nicht zunichte zu machen. Ein zu reiner kinematographischer Filmkunst gewordenes Enigma.
Das Begehren in „Mulholland Drive“, ist - analog zu „Lost Highway“, welcher männliche Versagensängste, Furcht vor dem Liebesakt, und die Unfähigkeit, die Geliebte / Ehefrau auch als autonom agierendes Subjekt anzuerkennen, also spezifisch männliche Begehrensmuster, thematisierte und problematisierte - ein rein weibliches, noch dazu eines von nur zwei Personen (die vielleicht, vielleicht auch nicht, auch ein und dieselbe Person sein mögen (für mich sind sie das nicht)). Es ist Bettys Begehren für Rita, und Dianes unerfülltes / fortan versagtes Begehren gegenüber der sie für Adam verlassen habenden Camilla. Die Traumata und identitären Disruptionen, die sich daraus sowohl für die unschuldig auftretende Betty, als auch für die verschmäht-zurückgewiesene und diese Kränkung nie verkraftet habende Diane ergeben, sind exakt genau das, was dem Film in seinen letzten vierzig Minuten seine enorm verstörende, emotional tief erschütternde Wirkung verleihen. Ab dem Moment, als „Rita“ nach der ersten Liebesszene im Schlaf zu sprechen beginnt, und die beiden Frauen mitten in der Nacht den Club Silencio aufsuchen, verhandelt der Streifen nichts Anderes mehr, als dieses Verlangen, und dessen Nicht-Erfüllung. „It’s all an Illusion!“, sagt der Conférencier auf der Bühne. Wir hören die Musik weiterspielen, auch wenn niemand da zu sein scheint, die:der sie spielen / singen. Für Diane ist dieses ihr eigenes sie verfolgende Begehren eine selbst verursachte, aus der narzisstischen Kränkung erwachsene Täuschung ihres Selbst. Und dennoch, auch wenn niemand (mehr) da ist, der dieses vergebliche Begehren weiterhin „am Leben“ zu halten scheint - Diane kann und wird es nicht los. Das wird ihr erst ganz zum Ende des Films gelingen, durch einen absolut endgültigen, zutiefst nihilistischen Akt der Selbstauslöschung des Individuums.
Danach ist nur noch Stille, und die traurig klagende, tragisch anschwellende Musik von Angelo Badalamenti läuft einfach weiter, während die Leinwand sich mit den schemenhaften Abbildern von Geistern in einer Stadt der Träume füllt, die einstmals Liebende waren.
Ihr Gesicht, so anmutig und sinnlich, halb im Schatten, halb im Licht, im Fond des Wagens, im Rahmen der geöffneten Rücksitztür.
Du nimmst zaghaft ihre Hand, und sie führt Dich, mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen, langsam den Abhang empor, sicheren Schrittes einem zwischen Sträuchern verborgenen Pfad folgend.
Einen Weg beschreitend, den nur ihr Beide kennt.
Und für einen kurzen Augenblick scheint Alles wieder wie früher zu sein, beinahe so, als wäret ihr zwei jemand Andere(s), und doch gleichzeitig Eure altvertrauten Selbste.
Vergib mir, Geliebte.
I know, I know, we’re lost.
But at least the stars are out tonight.
And for a brief moment, just for this fleeting glimpse in time, I thought they looked like the flickering lights of L.A.
Seen from a hilltop high above Mulholland Drive, with the love of your life right by your side.
