Ich muss mich hier auch nochmal zu dem Film äußern, da ich es zwar grundlegend verstehen kann, wie man sich an unlogischem Verhalten stößt, ich mir aber mal anmaße, im Zusammenhang mit Speak No Evil zu behaupten, dass man die Grundintention dieses Filmes nicht verstanden hat, wenn man sich auf die bloße (Un)Logik der erzählten Geschichte begrenzt bzw. außer Acht lässt, dass es in dem Film grundlegend um etwas ganz anderes geht (meiner Meinung nach )
Im FFF 2022 Thread wurde beklagt, dass Szenen wie das spontane Entfernen der Zunge, das Nichtinformieren der Polizei nach den grausigen Funden bzw. der endgültigen Erkenntnis, das Anrufen und um Hilfe beten der Familie, von der man weg möchte und das Betreuen der eigenen Tochter durch einen völlig Fremden keinen Sinn ergeben. Ich behaupte: das ergibt alles sehr wohl einen Sinn, wenn man diesen Film nicht als konkrete Geschichte über ein grausam mordendes Pärchen begreift, sondern als Metapher für faschistisches Verhalten sieht, welches im Kern nur darauf abzielt, destruktiv und zerstörerisch zu wirken und sich über den Anderen zu stellen.
Es gibt ganz viele kleine Szenen, in denen sich das holländische Pärchen Dinge herausnimmt, die man als unfreundlich, frech, unverschämt bezeichnen könnte. Aber: das dänische Pärchen nimmt diese hin. Es gibt verdutze Blicke, empörte Gespräche danach, aber in den Situationen selbst können Patrick und Karin oft schalten und walten, wie sie möchten (sie machen sich über das Geschenk von Björn und Louise lustig, Patrick kommt ins Bad und putzt sich die Zähne, während Louise duscht, Karin maßregelt Agnes am Tisch und tut dies so lange, bis Louise doch endlich was sagt, Patrick gibt zu, dass er hinsichtlich seines Berufes gelogen hat und stellt das als keine große Sache hin und erntet keine Reaktion, …). Dieses Verhalten wird peu a peu gesteigert, bis es im unausweichlichen Extrem und DER zentralen Frage des Films kulminiert: „Why are you doing this to us?“ „Because you let me.“ Das ist für mich die Antwort auf all das, was in diesem Streifen passiert. Und sie hat mich später an Pasolini’s „120 Tage von Sodom“ erinnert, der im Kern genau das darstellt, was ein Kritiker einst wunderbar auf den Punkt brachte und auch zu Speak No Evil passt:
Versteht man Die 120 Tage von Sodom jedoch nicht als Produkt des Mediums Film, sondern als politisches Instrument, das eher zufällig als kinematografisches Werk in Erscheinung tritt, lässt sich eine Einordnung leichter finden. Pasolini schildert in einem als Film getarnten zweistündigen Monolog, wie ein passives Volk von seinen Herrschern vergewaltigt wird. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und behauptet, dass die Opfer sich willentlich ihrem Schicksal ergeben und in Einzelfällen sogar mit den Tätern kollaborieren. Kurzum: Pasolini bebildert den von ihm wahrgenommenen Zustand einer Gesellschaft, die sich zu keiner politischen Revolution aufraffen kann und deshalb unter den Konsequenzen ihres Nichtstuns leiden muss.
Die Passivität (vor allem von Björn), dass sich fügen, nicht aufbegehren, sich nicht wehren führt am Ende dazu, dass sich sein Gegenüber (vor allem Patrick) alles Erlauben kann und bis zum Äußersten geht. Patrick wird nicht gemaßregelt, nicht in die Schranken gewießen, kann seine Mitmenschen so behandeln, wie er möchte. Er hat seine eigenen „moralischen“ Vorstellungen, duldet keine Widerworte, ist aber geschickt genug, seinen Gegenüber so lange einzulullen, bis dieser aus seinen Fängen nicht mehr entkommen kann.
Was ich übrigens ganz stark fand, war gerade diese Ohnmacht, diese völlige Erstarrung im Angesicht der Katastrophe. In so vielen Filmen explodieren introvertierte, sensible Menschen plötzlich und tun völlig abnormale Dinge. Ich behaupte: die meisten Menschen (mich eingeschlossen), würden sich genau so Verhalten wie Björn. Gelähmt vor Angst, zum Nichtstun verdammt (großartig: die Szene, als Patrick am Schluss im Freien uriniert und Björn die ganze Zeit auf den Autoschlüssel schaut, aber eben doch nicht rüberspringt und losfährt…). Im Angesicht solcher Extremsituationen würden glaube ich die wenigsten ihr Leben aufs Spiel setzen und handeln (denn die Hoffnung, dass doch noch irgendwie alles gut wird, ist denke ich immer da). Deshalb finde ich ihr Verhalten nicht unlogisch, sondern sogar extrem realistisch. Das dieser Film auch ganz bewusst Salz in die offene Wunde der heute so verbreiteten, gesellschaftlichen Passivität streut, ist eine andere Geschichte. Nicht anecken, ja nicht auffallen, den anderen nicht brüskieren, egal wie beschissen sich jemand verhält. Speak No Evil eben.