Teil 3: „Damen-zentrisches, Alk und Musik“
Wahrlich keine leichte Kost waren zwei emotionale Schwergewichte, die sich kritisch mit der gesellschaftlichen Stellung der Frau auseinandersetzen und laut Darcy Paquets Einführung aktuelle Entwicklungen in Südkorea wiederspiegeln:
Im Mittelpunkt von Vertigo steht eine junge, berufstätige Frau, deren Firma in einem der zahlreichen Hochhäuser Seouls angesiedelt ist. Wie der Filmtitel andeutet, wird die Ärmste regelmäßig von Schwindelanfällen heimgesucht, was neben den luftigen Höhen ihrer Arbeitsstätte wohl auch an den instabilen zwischenmenschlichen Beziehungen in ihrem Leben und der frauenfeindlichen Unternehmenskultur liegt, die der Film in aller Deutlichkeit auseinandernimmt. Chun Woo-hee verkörpert die Hauptfigur mit so viel Ausstrahlungskraft, dass ich knapp zwei Stunden lang richtig mitgelitten hab und erleichtert war, dass der Film Dank seines Muts zu ethischen Grauzonen immerhin mit einem Hoffnungsschimmer endet (Konkreter will ich aus Spoilergründen nicht werden und warne auch vor dem Trailer, der aus meiner Sicht zu viel verrät).
Visuell und formal weniger ambitioniert, imo aber uneingeschränkt empfehlenswert ist Kim Ji-young, Born in 1982 , der auf dem gleichnamigen Bestseller von Cho Nam-Joo basiert. Das Buch wurde nach seiner Veröffentlichung auch in China und Japan ein großer Erfolg und führte in Südkorea neben konstruktiven Diskussionen zu „Verhaltensauffälligkeiten“ antifeministischer Gruppierungen, was später leider auch für die Filmadaption galt. Die systematische Ungleichbehandlung von Frauen wird darin mit einer Kombination aus Alltagsszenen und Rückblenden am Beispiel einer verheirateten Frau gezeigt, die ihren Beruf aus Rücksicht auf die Familie aufgab und schließlich in eine spirituelle Krise gerät. Während das Szenario im Buch etwas abstrakter gehalten und insofern noch stärker als politisches Statement für eine ganze Generation formuliert ist, liegt die Hauptstärke der Filmadaption in der einfühlsamen Darstellung von Jung Yu-mi, die vielen vermutlich aus Train to Busan in Erinnerung ist. Dabei beschränkt sich der Film nicht auf seine Grundsatzkritik, sondern zeigt auch mögliche Wege aus der Krise (Ich bleib hier ähnlich wie oben aus Spoilergründen lieber schwammig). Das japanische Wort für „happy-sad“ fällt mir grad leider nicht mehr ein, aber es beschreibt gut, wie ich mich am Ende von Kim Ji-young, Born in 1982 damals gefühlt habe.
Die coolste Protagonistin meiner Festivalwoche lieferte Minori, on the Brink, da Minori (umwerfend gespielt von Hagiwara Minori xD) so gar nicht dem traditionellen Ideal einer zurückhaltenden jungen Frau entspricht, sondern Ihre Wut über die gesellschaftliche Ungleichbehandlung von Männern und Frauen offen zum Ausdruck bringt (bei Kerlen, die sich unkorrekt verhalten, gerne auch mal handgreiflich, hihi).
Der Film hat keine stringente Handlung, sondern entwirft in einer Abfolge von Dialogszenen das Portrait einer jungen Generation, die ihr Leben ohne nennenswerte Perspektive vor sich hinlebt. Ähnlich wie in Eric Rohmers Filmen sprechen die Charaktere über Gott und die Welt, über Essen, Freundschaft, das Verhältnis der Geschlechter und verschiedene Lebensentwürfe, wobei der Tonfall immer wieder zwischen lustigen und nachdenklichen Momenten wechselt. Minori, on the Brink markierte laut Mark Schillings Einführung möglicherweise auch die Ankunft der #MeToo Ära im japanischen Kino, wobei sich der Film (wie bei all seinen Kernthemen) um eine ausgewogene Position bemüht, indem er die Licht- und Schattenseiten der Bewegung gleichermaßen kommentiert.
Leichtere, aber sehr unterhaltsame Kost war Cheerful Wind , Hou Hsiao-hsiens zweiter Spielfilm aus dem Jahr 1982, der beim Festival in einer restaurierten Fassung gezeigt wurde. Die Geschichte einer quirlig-frechen Fotografin, die mit einem Blinden anbandelt, passt im Grunde prima als Überleitung zu meinem zweiten großen Block in diesem Eintrag: Romanzen der eher unkonventionellen Art.
In Crazy Romance lernen sich zwei Angestellte einer Werbeagentur kennen, die mit der Liebe bisher eher schlechte Erfahrungen gemacht haben. Zur Annäherung der beiden kommt es wegen ihres Hangs zu exzessivem Alkoholkonsum, der allerlei peinliche Situationen zur Folge hat, aber auch dazu beiträgt, dass sie einander sehr offen sagen, was ihnen so auf dem Herzen liegt. Gerade die Schärfe vieler Dialoge, die u.a. Beziehungen, Sex und das Verhältnis von Privat- und Arbeitsleben behandeln, scheint in Südkorea bei jüngeren Zuschauern einen Nerv getroffen zu haben.
Eine wichtige Rolle spielt Alkohol auch in My Sweet Grappa Remedies, dessen Hauptfigur in ein vom japanischen Kino eher vernachlässigtes Segment fällt: über 40-jährige, alleinstehende, berufstätige Frauen. Yoshiko, über deren Innenleben man im Laufe des Films mit Hilfe von Tagebucheinträgen ungewöhnlich viel erfährt, ist im Geiste jung geblieben und spült negative Emotionen regelmäßig mit Grappa (oder anderen Spirituosen) hinunter. Ungewöhnlich ist auch die Dreieckskonstellation, zu der es in ihrem Liebesleben schließlich kommt, was von manchen Festivalteilnehmern als moderne Jules und Jim Variation beschrieben wurde.
Besonders gut kam bei den Festivalteilnehmern I WeirDO an. Komplett mit einem iPhone gedreht, treffen in der taiwanesischen Produktion zwei junge Menschen aufeinander, die an OCD leiden. Wie sie ihre Berührungsängste mit Regencape, Handschuhen und Mundschutz gewappnet allmählich überwinden und zueinander finden, passte in den Monaten nach Beginn des ersten Lockdowns natürlich perfekt zu den aktuellen Umständen.
Zur Kategorie unkonventioneller Romanzen gehört last but not least auch Chasing Dream von Johnnie To . Irgendwo zwischen Mixed-Martial-Arts-Drama und Casting-Show-Satire angesiedelt, kommen hier ein junger Kämpfer und eine aufstrebende Sängerin zusammen und unterstützen sich gegenseitig bei der Verwirklichung ihrer Träume. Ähnlich wie in I WeirDO verlief die Handlung für mich ab einem gewissen Punkt eher unangenehm, aber die Erinnerung an das große Finale bringt mich auch ein Jahr später noch zum Schmunzeln.
Mein Abschlussfilm war Dance with Me (international auch als Can’t Stop the Dancing bekannt), ein japanisches Musical, in dem eine junge Karrierefrau nach einer - möglicherweise magisch verstärkten - Hypnose spontan tanzen und singen muss, sobald sie Musik hört, was nicht nur im Beruf zu peinlichen Momenten führt. Der Film sprüht geradezu vor witzigen Einfällen, wobei mich der Selbstfindungstrip der Hauptfigur (urkomisch gespielt von Miyoshi Ayaka ) trotz der allgemeinen Heiterkeit auch ein wenig nachdenklich stimmte.
Hier abschließend noch ein interessantes Video zur Geschichte japanischer Musicalfilme:
P.S. Sorry again an @Frank, dass ich für den Rest meiner Zusammenfassung so lange gebraucht habe.
P.P.S. @todi, könntest du im Thread-Titel bitte das Jahr 2020 ergänzen? Vielen Dank! 