„You should be sleeping my love
Tell me what you’re dreaming of“
(Shirley Manson / Garbage, „Hammering In My Head“)
„Wohin gelangen sie, wenn sie fortgehen und ihre Körper zurücklassen?“
(William S. Burroughs, „Naked Lunch“)
„Der Tod ist immer nur schlimm für die Überlebenden - das zumindest ist meine Meinung.“
(Tom G. Liwa / Flowerpornoes, liner notes zu „Requiem“)
Being in love is a good thing
Meine Großtante, die in Frankfurt am Main wohnte und in Kindheitstagen immer eine meiner liebsten Verwandten gewesen war, starb an einem grauen Tag im November 1981. Ich war zu der Zeit gerade einmal zehn Jahre alt, und hatte sie das letzte Mal gesehen, als wir sie einige Monate zuvor besucht hatten. Sie war damals schon stark vom Krebs und den diversen Therapien (die ja manchmal schlimmer sind als die Krankheit selbst) gezeichnet gewesen, und ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass sie auf mich den Eindruck machte, als sei sie ein Zombie-haftes Monstrum, eine irgendwie seuchenhafte Schreckensgestalt. Jedenfalls ängstigte mich ihr Anblick ungeheuerlich, und obwohl sie mich gerne umarmt hätte, schreckte ich davor zurück, liess diesen letzten Liebesbeweis nicht zu. Der Anblick ihres ausgemergelten Körpers war meine erste unmittelbare Konfrontation mit der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. Der Moment, in dem mir schmerzhaft und vollkommen klar wurde, dass wir Alle wirklich endlich sind, und dass dieses unser eigenes Ende nur allzu oft auch mit physischen Schmerzen und psychischem Leid verbunden sein kann. Als meine Mutter mir, nachdem ich, von der Schule heimgekehrt, am Mittagstisch saß (es gab Gemüsesuppe), vom Tod meiner Großtante berichtete, da brach ich auf der Stelle in Tränen aus. Ich weinte meinen Suppenteller voll, und, ich kann mich zwar nicht erinnern, aber ich werde ihn danach wohl aufgegessen haben. Doch an den salzigen Geschmack meiner eigenen Tränen in meiner Suppe habe ich keinerlei Reminiszenz mehr, nur noch an dieses zuvor schlicht unvorstellbar gewesene Gefühl von überwältigender Traurigkeit. Auch weiss ich nicht mehr, wie lange ich damals geweint habe, mögen es nun fünf, oder zehn Minuten gewesen sein, oder auch länger. Der Schmerz aber, dieser unendliche Schmerz, ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben, und er sollte mich, in immer neuen und anderen Abstufungen, über die Jahre noch oft heimsuchen. Manchmal blieb er nur ganz kurz, so wie ein Freund oder eine Freundin, die Dich bloss für eine oder zwei Übernachtungen besuchen, und dann nach einem Wochenende schon wieder abreisen, gelegentlich aber verweilte er über Jahre, so als wäre er schon zu einem unablöslichen Teil von mir geworden, er folgte mir überall hin, war immer irgendwie da, wie mein eigener Schatten beinahe. Und genau das war er ja letzten Endes auch - der Schatten alljener, die nicht mehr da waren, die lange schon gegangen waren, aber dennoch nicht von mir weichen wollten. Die weiterlebten, allein in meiner Erinnerung.
Es war eine schöne Fügung, dass mein persönlicher Start ins Festival in diesem Jahr an einem Freitag dem dreizehnten sich ereignete - und das gleich aus mehreren Gründen, nicht nur aus den genre-affinen, nerdig-offensichtlichen. Nicht nur für Taylor Swift, auch für mich ist die 13 (m)eine Glückszahl, tatsächlich sogar aus ähnlicher Ursache. Und ein glückliches Händchen hatte ich auch heuer wieder mit meiner Film-Auswahl für den eigenen FFF-Auftakt. Wo mich im letzten Jahr noch die spröde-reduzierte Odyssee einer native australian woman durch eine postapokalyptische Dystopie in den Bann gezogen hatte, da durfte ich heute nachmittag in „Else“ einer halluzinogen-fieber(alp)traumhaften amour fou inmitten einer alle (Körper- und auch Verstandes-)Grenzen verschiebenden Body Horror-Pandemie (von Fredi bei ihrer Filmankündigung wie „Buddy-Horror“ ausgesprochen, was bei einigen Besucher:Innen in der Reihe direkt vor mir für belustigte Kommentare sorgte…) beiwohnen - „Die Liebe in der Zeiten der Dysmorphia“, sozuschreiben. Und was zuerst noch ganz lustig und leicht angeschrägt, spinnert-liebenswürdig begann - Der irgendwie schon zu Beginn leicht off wirkende, unbeholfen schüchterne Anx (Sollte das etwa ein Wink mit dem Zaunpfahl sein? „Anx“ als Kürzel für „anxiety“? Aber es war ja ein französischsprachiger Film… Naja, wie auch immer - Gepasst hätt’s jedenfalls), der von diversen körper- und hygienebezogenen Phobien und Ängsten geplagt wird, und die impulsiv-expressive, etwas neurotisch-überspannte Cass beginnen eine hemmungslos-leidenschaftliche Liebesaffäre, die sich beinahe ausschliesslich in den Mauern von Anx’ Apartment abspielt, und die Außenwelt quasi vollkommen aussperrt (was mich dann stellenweise leicht an Ōshimas „Im Reich der Sinne“ erinnerte, ohne dessen transgressive Tabubrüche, versteht sich). Das wirkt eingangs reichlich exzentrisch, und kippt bisweilen auch mal ins Absurd-Groteske. So ist unter Anderem auch der wohl abgedrehteste Cunnilingus zu sehen, den es seit langer Zeit auf der Leinwand zu bestaunen gab („Meet Ingeborg!“ ). Allein: Die menschliche Gesellschaft außerhalb der Mauern des Mietshauses wird just zur selben Zeit von einer immer schneller und schneller um sich greifenden, rasant sich überall ausbreitenden Epidemie zuvor ungekannter Art heimgesucht: Die Menschen beginnen, mit den sie umgebenden Umwelt-Materialien auf unheimlich-unerklärliche Art und Weise zunehmend zu verwachsen. Ein Obdachloser, welcher sich auf dem Gehweg gegenüber aufhält, transformiert sich beispielsweise in eine Art abstrus-bedrohliche Stein-und Geröll-Kreatur, dass der riesige Steinbeisser aus Petersens „Die unendliche Geschichte“-Verfilmung vor lauter Schreck darüber nur geschockt mit den Felsen-Kiefern malmen könnte. Und so weicht die amüsant-exzessive Grundstimmung der ersten 15 bis 20 Minuten nach und nach einem sich allmählich immer stärker manifestierenden Gefühl eines latent bedrohlichen Untertons. Das Knarzen und Knirschen des Gebälks vor den alsbald schon zerborstenen Fenstern hört sich zunehmend beängstigender an, die Wände des Raumes scheinen immer mehr eher ein Gefängnis, denn einen Schutz vor dem Außen darzustellen. Die Kommunikation der Hausbewohner:Innen-Gemeinschaft untereinander (allein durchs gesprochene Wort über ein antiquiertes Rohrsystem unbekannten Zwecks (Wäscheschacht? Belüftungssystem?) mutet schwer kafkaesk an, und das ganze Arrangement des Miteinander-Lebens der Beiden gemahnt nach etwa der Hälfte der Laufzeit, wenn der Film auf seinen Höhepunkt zusteuert, in etwa daran, als würde der Stil von Leos Carax’ „Boy meets Girl“ in der Wohnung von Tarkovskijs „Stalker“ sich mit den psychedelisch-beklemmenden Phänomenen eines Horror-Manga von Junji Itō („Uzumaki“) auseinandersetzen müssen. Auf seiner Klimax erreicht der Streifen eine unglaublich dichte Intensität von bedrohlichem Schrecken, dass ich stellenweise fast das Atmen vergaß (der Angriff der organisch verschmolzenen Bretter-Hund-Wesenheit). Großartig abgefilmt, by the way - viele extreme Ultra-close ups, tolles Sound Design zudem auch noch. Aus seinen begrenzten finanziellen Mitteln holt „Else“ jedenfalls das absolute Maximum (and then some) heraus. Da gibt es Bilder zu sehen, wie Ihr sie so unter Garantie noch nicht erblickt habt. Die bizarre Schönheit einer sich ineinander auflösenden Welt, miteinander verschmelzender Materie, ineinander übergehenden Körpern, die Nachtmahr-artige Transformation des Seins, wie sie selbst ein HR Giger sich wohl nie hätte vorstellen können. Und in der zweiften Hälfte wechselt dann wiederum erneut die Tonart, vom dräuend-drängenden, die Protagonist:Innen belagernden Schrecken, zu einer todtraurig-tristen Elegie, einer niederschmetternd-endgültigen Sterbeklage. Wenn Cass mit ihrem Bett verwächst, und sich alsbald nicht mehr ausmachen lässt, wo die Eine aufhört und das Andere anfängt, dann scheint es fast so, als hätte der Film selbst eine krasse Überdosis „Lucy In The Sky With Diamonds“ zu sich genommen, und wäre auf einem alle limits Lichtjahre hinter sich lassenden Todestrip. Nur, dass hier kein noch so gut gemeintes „Relax and float downstream“ mehr helfen mag. Im Angesicht des unvermeidlichen Todes scheint Anx hilflos, vollkommen auf sich selbst zurückgeworfen, je mehr ihm klar wird, dass er nichts mehr tun kann, um Cass’ Schmerz zu lindern - nichts, außer das Eine, Letzte. Und genau das tut er dann schliesslich auch. Ein letzter verzweifelter Liebesbeweis, vor dem ich persönlich in der Realität zurückschrecken würde und von dem ich glaube, dass ich selbst mich niemals dazu überwinden könnte, ihn auszuführen. Aber im Kontext des filmischen Narrativs vollkommen folgerichtig. Und durch ein von Cass verfasstes Gedicht, das Anx zwischendurch liest, erklärt sich dann auch der Filmtitel - diese Transformationen in something else, welche das Leben nun einmal beständig und immer wiederkehrend ausmachen und bestimmen, den Rhythmus und auch finalen Schlusspunkt der eigenen Biographie setzen. In Verbindung mit dem Satz „Being in love is a good thing.“, der irgendwann mittendrin mal fällt, und der Geschichte vom Lungenfisch, der als erstes Wesen aus dem Wasser an Land ging, und darob unvorstellbare Schmerzen beim Versuch zu atmen hatte, bis sich sein Organismus schliesslich aufs Luftatmen umstellte, verdeutlicht der Streifen auch die Notwendigkeit der das Sterben ihrer Liebsten überlebt Habenden zur eigenen Transformation, auch wenn diese zuerst schmerzvoll und kaum zu ertragen scheint… sie muss und wird eines Tages sich vollziehen. Die inzwischen beinahe zur Gänze monochromatischen Bilder zeigen in den letzten Minuten eine Umwelt, die nur noch ein einziger gigantischer Organismus zu sein scheint (think der Comic zu Holy Moses’ „The New Machine Of Liechtenstein“ made movie), so als wäre Anx zurück im Mutterleib, und würde seiner (Wieder)Geburt harren - die dann auch prompt stattfindet. Und die Szenerie sowie deren Darstellung hier doch sehr an die finalen „Outer Space“-Sequenzen aus Aronovsky’s „The Fountain“ erinnern. Kann sein, dass der Streifen hier sowohl in Sachen Metaphern als auch Allegorien stellenweise doch arg dick aufträgt - hat mich persönlich aber nicht allzu sehr gestört. Denn mich hat „Else“ (aus, wie weiter oben und auch weiter unten nachzulesenden, persönlichen Gründen) emotional tief berührt und angerührt, und vollkommen abgeholt und mitgenommen auf eine Reise bis auf den Urgrund meiner eigenen Trauer - und darüber hinaus. Sodass ich für meinen Fall hier tatsächlich jetzt schon von einem ersten persönlichen Highlight des diesjährigen FFF-Jahrgangs sprechen würde.
In meinem review zu „La morsure“ schrieb ich damals Ende April, dass ich, wenn es einem Film gelingt, mich ganz tief anzurühren, unvermittelt zu weinen anfange. Und in der Regel sind dies stille Tränen, das heisst, ich mache da keine großen Geräusche oder so. Heute nachmittag beim Ansehen von „Else“ aber war das anders. Ich habe ein-, zweimal laut aufschluchzen müssen, vor lauter Ergriffensein.
Und es kommt zwar - nach all den Jahren und Jahrzehnten des Filmkonsums, und der ungezählten Kinobesuche, schon recht häufig vor, dass ich recht genau weiss, wann ein Film an sein Ende kommt, und auch die letzte Einstellung oft genug erahnen kann - dass ich aber denke: „Das, genau das, müsste und sollte jetzt das allerletzte Bild sein, genau dieses, und kein anderes!“, und das dann auch exakt so geschieht, ist allerdings immer noch eher eine Seltenheit. Aber heute nachmittag war dem so.
Und das war auch gut so.
Meine Mutter starb am Morgen des 31. Oktober 2022, um etwa 7:45 Uhr, in einem Hospiz im schleswig-holsteinischen Geesthacht, etwa vier Monate, nachdem sie ihre Krebsdiagnose erhalten hatte, und nachdem sie sich zwei lange Tage durch ihren Sterbeprozess gequält hatte. Ich war an diesem grau verhangenen Morgen der einzige Mensch, der in jenem Moment bei ihr war. Und selbstverständlich habe ich sie nur wenige Sekunden vor ihrem Tod noch einmal in die Arme genommen, ihr all das ins Ohr geflüstert, was sie vermutlich kaum noch hat wahrnehmen können, und mir aber doch so unfassbar wichtig war, und mich ein allerletztes Mal - für immer - von ihr verabschiedet.
Sie schnappte noch ein letztes Mal nach Luft, so wie ein (Lungen)Fisch auf dem Trockenen, der Blick in ihren Augen brach, und dann war es vorbei.
Sie war nicht mehr.
Mein (ebenfalls schwerkranker) Vater sollte ihr keine zwei Wochen später folgen.
Ein paar Stunden später, auf der Heimfahrt mit meinem Onkel, wehte der kalte Oktoberwind die letzten gelbbraunen Herbstblätter über die Straße.
Und da wusste ich, dass der Herbst vorbei war, und eine neue Zeit für mich begonnen hatte.
Eine Zeit, die bis heute andauert. Eine Zeit, in der ich selbst (immer noch) einen derartigen Veränderungsprozess durchlebe, wie ich ihn noch nie zuvor erfahren habe.
Wie ein Fisch an Land, der vergeblich nach Luft schnappt, der sich vor Schmerzen windet, in der Hoffnung, ihm mögen doch Lungen wachsen, da, wo er bislang nur Kiemen hat.
Ich zappele immer noch hin und her, in Pein und Agonie von einer Seite auf die andere mich wälzend, den Schmerz ertragend.
In der Hoffnung und dem Wissen, dass er eines Tages, ganz gleich wie weit dieser Tag auch noch entfernt sein mag, wenn schon nicht vergehen, so doch auf ein erträgliches Maß schrumpfen mag und wird.
Bis dahin aber bin ich ein Fisch an Land, der Erste meiner Art (denn Das-Andere-Überleben-und-damit-Klarkommen-Müssen ist immer das erste Mal, für jeden von uns, ganz gleich, wie oft wir es zuvor schon erlebt und durchlebt haben mögen).
Just never forget one thing, no matter how hard the pain you suffer might be.
Being in love is a good thing.
„Ich hab’ diese Welt nicht erfunden / Die war immer hier
Erinner’ Dich und erinner’ mich / Bis wir uns verlier’n
Und da ist nichts / Woran wir uns beide festhalten können“
(Tom G. Liwa / Flowerpornoes, „Requiem“)
„And I was catching my breath / Floors of a cabin creaking under my step
And I couldn’t be sure / I had a feeling so peculiar
This pain wouldn’t be for
Evermore“
(Taylor Swift, „evermore“)