FFN 2024 - Fantasy Filmfest Nights

If you knew you’d die tomorrow

Während ganz zu Beginn von „La Morsure“ (a.k.a. „Bitten“) die Film- und Vorspann-Titel eingeblendet werden, ist darunter das Bild von sich sacht im nächtlichen Wind wiegenden und nur zu einem kleinen Teil angeleuchteten Baumkronen zu sehen - eine schöne Metapher für das Gefühl einerseits der Faszination der dunkel unbekannten Verheißungen, die an der Schwelle von Kindheit / Jugendzeit zum Erwachsensein sich verbergen, und andererseits dieses unbestimmte Empfinden des Sich-Selbst-Verlorenfühlens in all den einander überlagernden Sensationen und ständig neuen Veränderungen, welchen die jungen Heranwachsenden sich in der Adoleszenz ausgesetzt sehen. Und hier ging es mir genau wie @splattercheffe beim von mir ja leider (noch) ungesehenen „Love Lies Bleeding“ - eigentlich schon da und dort, aber allerspätestens nach etwa weiteren zwei Minuten (nämlich nach der mit den expressiven Stilmitteln des europäischen Exploitationkinos der 1960er bebilderten Alptraum-Sequenzen der jungen Protagonistin) war ich unrettbar und mit Haut, Haaren und Seelenleben an den Film verloren. Regisseur Romain de Saint-Blanquat gelingt es mit seinen angenehm oldskool ausgeleuchteten, vom look und Stil an das franko-iberisch-italienische Genrekino erinnernden betörend-entrückten Bildern scheinbar mühelos, eine zwischen unterschwelliger Melancholie und entgrenzt-explosivem Aufbegehren schwankende, tagträumerisch-somnambule Stimmung von gleichzeitig tiefer Traurigkeit und unbändiger Lebenslust zu erzeugen, die mich auf der Stelle gefangen nahm und bis zum letzten Bild des Films nicht mehr los ließ.

Es ist hier weniger die nur notdürftig geschilderte, wie eher hingeworfen wirkende Story, die mich so in Besitz nahm, als vielmehr die heftigste Euro Gothic-vibes atmende, mal dicht-düstere, dann wieder federleicht-flüchtige Atmosphäre, wie sie in der Art und Weise vielleicht wirklich nur das französische Kino so unnachahmlich hinbekommt. Wozu sicherlich auch der ungemein catchy groovende Soundtrack voller zeitgenössischer Rock- und Popsongs sowie der sowohl an alte ProgRock-Psychedelika als auch frenchy chansons à la Juliette Gréco erinnernde und eigens für den Film komponierte eingängig-beunruhigende score vom mir bis dato unbekannten Émile Sornin beitragen. Dieses im einen Moment unbändig-ungestüme Drauflosstürmen, dann gleich darauf unsicher-verschüchterte, tastend-stolpernde Sich-ungewiss-Seiende, diese vorsichtig-vorlaute Suchbewegung, welche die juvenile Erlebniswelt so sehr bestimmt, ist hier jedenfalls perfekt eingefangen. Das Grenzenlos-Unverschämte einer Jugend, die gegen Alles rebelliert, ohne genau erklären zu können, warum, die Alles haben und erleben will, um zwar am Besten jetzt sofort, ohne überhaupt zu wissen, was genau sie wirklich will, die sich scheu-entschlossen ausprobieren und im überbordenden Exzess verschwenden will und muss, die so jung schon um den Verlust der eigenen Unschuld trauert, die Melancholie eines allumfassenden Weltschmerzes verspürt, der zwar die ganze Welt offensteht, und die aber doch noch so wenig damit anzufangen weiß… all das verströmen die vielen kleinen Momente dieses schwelgerisch-sanften coming-of-age-Dramas in sachten Berührungen, begehrend-verstohlenen Blicken, traurig-trister Mimik und überlebensgroß-übertriebenen Gesten. Diese eine Party, auf der man einfach dabei gewesen muss, diese eine Nacht, in der einfach Alles passieren kann, dieser eine Junge (oder dieses eine Mädchen), die einfach Alles bedeuten - all diese ersten und eben darum unvergesslichen Male, die dann im Strudel der Jahre oft genug irgendwann doch verloren gehen, und die man so nie mehr wird erleben können… die erste hustend-tief-inhalierte Zigarette, das erste Sich-völlig-verkaterte Auskotzen, der erste leidenschaftlich-verschämte Kuss. Das drängend-Dringliche, das Einfordend-Einhaltende der immer einen Tick zu weit ausschlagenden Pendelbewegungen einer Jugend, die schnell, vielleicht zu schnell erwachsen werden will, und dabei dennoch den schon verblassenden Idealen der ihr entgleitenden Kindheit anhängen möchte. Die mich ganz leicht an eine junge Anna Karina erinnernde, fabulös aufspielende Léonie Dahan-Lamort (<-- was für ein Familienname… :wink: ) verkörpert die Figur der temperantvollen, zwischen himmelhoch-jauchzend und zu-Tode-betrübt oszillierend stimmungsschwankenden, Sturm-und-Drang-Klosterschülerin Françoise mit einer jederzeit authentisch-stimmigen, vollkommen überzeugenden und nie aufgesetzt wirkenden, absolut umwerfenden Leinwand-Präsenz. Und wie die lebensechten Dialoge im scheinbar Beiläufigen, sich en passant nonchalant Ereignenden, im Reden über scheinbare Kleinigkeiten die ganz großen Themen verhandeln, das lässt durchaus auch ein wenig an die Nouvelle Vague oder auch die Filme eines Éric Rohmer denken. Ich hatte es ja am Sonntag im Gespräch mit @todi schon erwähnt: Wenn der Film, nachdem die beiden Mädels mit ihrem Loverboy in spe und „Maurice the Sadist“ zusammen im geklauten Auto zur party location düsen und sich dabei die ganze Fahrt über in scheinbar belanglosem Geplänkel ergehen, die nächste Stunde einfach nur genau so weiter gegangen wäre - ich hätte ihn trotzdem abgefeiert. Eine weibliche Jugend zwischen Kommunismus und Kommunion, zwischen Algerienkrieg und Beatlemania, zwischen nuklearer Vernichtungsandrohung und 68er-Aufbruchsstimmung, zwischen Mensis und Mensa, zwischen patriarchaler Bevormundung und feministischem Aufbegehren, zwischen Rock ‚n‘ Roll und Revolution, zwischen Klammerblues und Klassenkampf.

„La Boum“ und „Les Roseaux sauvages“ treffen Jean Rollin und Jean-Luc Godard auf einer ausschweifend-ausgelassenen Gutshaus-Party im nächtlich-verlorenen Traumwald der todessehnsüchtig-lebensleidenschaftlichen Teenage Goth Gauloises. Ein kleines großes Filmwunder. Day dreaming of dying while longing to live with every fibre of one’s body.

Die schönsten und ergreifendsten Kino-Momente sind für mich immer die, wenn ich urplötzlich so gerührt bin, dass ich unvermittelt weinen muss, ohne dass ich erklären könnte, warum. Ich weiß zwar genau, warum mir dann die Tränen kommen, aber dieses Angerührtsein geht so dermaßen tief, dass es äußerst schwer wäre, dafür passende Worte zu finden, welche dieses Gefühl auch nur ansatzweise adäquat beschreiben könnten. „La Morsure“ hat es während seiner Laufzeit gleich dreimal geschafft, mich derart zu Tränen zu rühren.

Bei der Sexszene ganz am Ende dachte ich nur: „Bitte bitte bitte zeigt jetzt um Himmels Willen nicht ihre Brüste!“ Nicht, weil ich irgendwie generell ein Problem mit der filmischen Entblößung sekundärer weiblicher Geschlechtsmerkmale hätte, sondern weil ich befürchtete, dass der Film vielleicht doch noch Probleme haben könnte, dabei den richtigen Ton zu treffen, und eine Art übersexualisierte Zur-Schau-Stellung auf den letzten Metern die ganze fast perfekte vorherige Stimmung verderben könnte. Und dann macht der Streifen das Alles so behutsam und ungemein respektvoll, und framed diese ja doch sehr verletzliche Nacktheit auf so natürliche und beiläufig wirkende Art und Weise, dass ich mich gefragt habe, warum ich mir darum überhaupt Sorgen gemacht hatte, und darob beinahe schon wieder hätte weinen müssen.

In den Neunzigern hiess es in einem Artikel des Indigo-Musikvertriebs-Magazins zur Musik des großartigen Funny van Dannen einst:

„Man möchte am Liebsten die ganze Welt umarmen, und wird gleichzeitig doch ein kleines bisschen trauriger.“

Genau so fühlt man sich ja oft in der Adoleszenz.

Und auch nach diesem Film.

:heart: :heart: :heart:


Ich hab’s ja gestern schon drüben im „Soundtracks“-thread gepostet, aber weil ich den Song so sehr mag und als so passend für die Stimmung des Films empfinde, hier einfach noch einmal:

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