All About Sandra
Auch wenn ich in diesem Jahr nur bei sieben Filmen mit dabei war (möchte gar nicht wissen, wie es den FFF-Besucher:Innen mit zwanzig oder mehr Sichtungen geht, von den Dauerkarten-Inhaber:Innen mal ganz zu schweigen) - man merkt ja doch, dass das 2023er-FantasyFilmfest einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat, wenn man, sobald das Saallicht erlischt und wider Erwarten nicht die Hollies erklingen oder jemand einem von der Leinwand erzählt, dass sie gerade eine Nonne erblickt habe, irgendwie irgendwas vermisst… Und da stellt sich dann natürlich gleich die Frage: Ist so ein Kinoleben ohne „The Air That I Breathe“ und die dämonische Ordensschwester überhaupt noch ein lebenswertes? Die Antwort kann selbstschreibend nur lauten: „Ja, aber…“
Aber mal im Ernst: Das war schon ein seltsamer Filmfest Hamburg-Auftakt gestern abend… Ich hatte gar nicht (mehr) auf dem Schirm, was so eine Preis-Verleihungs-Zeremonie Alles an Rahmenprogramm, Brimborium und Lobhudeleien beinhaltet… und dann letztlich dazu führte, dass der (150 Minuten lange) Hauptfilm erst gegen 20:30 Uhr begann, und ich somit den vorletzten Zug gen Heimat knapp verpasste und 1 1/2 Stunden am HBF Hamburg auf die nächste Bimmelbahn ausharren musste… Putziger coincedence: In der Reihe vor mir und zwei Plätze neben mir saßen mit Joachim Post, Katja Briesemeister und Co. (QueerFilm Fest Hamburg, früher LesBiSchwule Filmtage, Mitte / Ende Oktober) übrigens schon die nächste Filmfest-Orga-Crew… Eingangs-Statement vom scheidenden Festivalleiter Albert Wiederspiel (bei dem das mittlerweile altbekannt-ausgenudelte „Queen of Cannes“ natürlich nicht fehlen durfte), danach BlaBlaBa vom Herrn Bürgermeister Peter Tschentscher (inclusive noch vieler weiterer über- und abgenutzter Floskeln (" Bereicherung für Hamburg als Kulturstandort", „Tor zur Welt“, usw. usf. - you know the f-ing drill)), welcher es dann - sehr zur Belustigung des Publikums - auch noch schaffte, mal eben kurz bei der Nennung des Geburtsdatums des Namenspatrons für den Preis einen Zahlendreher einzubauen („1987“ (was morbiderweise sein Todesjahr ist) statt „1897“). Okay, solche obligaten Quatschereien ist man bei derlei Anlässen ja mehr oder weniger gewohnt und konnte man Alles auch noch einigermaßen durchstehen… danach aber kam dann noch zur persönlichen Laudatio Hamburg’s very own Jens Harzer (seines Zeichens inzwischen Träger des Iffland-Rings) auf die Bühne und an’s Mikro - und oh my, war das schwer auszuhalten… Nicht nur, dass der Herr in seinem Redefluß aber auch so gar kein Ende mehr finden wollte (wobei er im Bezug auf Hüllers Schauspiel, Herangehensweise und Methoden doch oft auch sehr treffende Worte und Umschreibungen fand), nein, er schaffte es nicht nur, sehr persönliche Zitate und IMHO doch arg vertraulich-intime Details aus privaten Begegnungen und Gesprächen mit der Preisträgerin dem Publikum preiszugeben (wofür er im Anschluss auch noch einen verdienten Rüffel von Hüller retour bekam), sondern fing irgendwann doch tatsächlich auch noch an, ganze Szenen aus der zweiten Hälfte des Films, den wir doch gleich erst selbst noch sehen wollten, zu schildern und im Bezug auf Hüllers Schauspiel durchzuanalysieren… als er dann tatsächlich noch die absolute Schluss-Szene des Films zu erörtern begann, wurd’s mir zu bunt und ich hielt mir die Ohren zu. Ist übrigens nicht nur mir, sondern auch vielen Anderen im Publikum überaus sauer aufgestoßen. Spoiler-Phobie hin, Story-Vorwegnehmen her - ich lasse mir nur äußerst ungern im Vorhinein bereits verklickern, wie ich bestimmte Einstellungen zu verstehen habe. Aber gut, war dann glücklicher Weise auch das Ende seines Sermons.
Hüller selbst war dann überraschend ehrlich, sie habe ja gar nichts vorbereitet, weil sie ja auch gar nicht habe wissen können, was sie hier erwarte, und natürlich würden ihr jetzt die Worte fehlen, und vermutlich würde Alles Weitere, was sie noch zu sagen habe, zu nichts führen (war dann auch so ). Bedankte sich artig mal hier (Wiederspiel, Justine Triet), mal da (Schauspiel-Agentin, die sie wunderbar abschirme, vor Allem jetzt und in den letzten paar Monaten, wo doch Alles ein bisschen sehr viel geworden sei), fasste sich überaus kurz, setzte sich noch fix für die Fotograph:Innen-Meute in Szene (wobei sie auch hier mit der Absurdität dieser Situation noch spielerisch-humorvoll umging und sich ein, zweimal in absichtlich übertriebene Posen warf), und war dann auch schon wieder weg. Zeit für’s main feature - endlich, möchte man sagen.
Der Auftakt zu „Anatomie d’une chute“ gestaltet sich vollkommen abrupt - man wird mir nichts, Dir nichts, unvermittelt in eine Interview-Szene hineingeworfen, bei der die Kamera ganze nahe (viel zu nahe) an den Gesichtern der Figuren ist, beinahe schon an ihnen zu kleben scheint. Ein irritierend-unangenehmes Auf-die-Pelle-Rücken - und ein gewiefter narrativ-stilistischer Trick, wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, wenn die Fragen von Staatsanwalt und Vorsitzender Richterin im Gerichtssaal im Fortgang des Prozesses zunehmend bohrend-unverfrorener werden, wenn das gesamte Privat-, Familien- und Intimleben der Angeklagten schonungslos entblättert, schamlos der Öffentlichkeit vorgeführt und medial ausgeschlachtet werden… und genau in diesen Momenten die Kameraarbeit meistens etwas mehr aus der Ferne stattfindet, somit genau da und dort, wo Strafverfolgung und gesellschaftlicher Voyeurismus immer näher und noch näher ran wollen, immer tiefer und tiefer graben möchten, konträr verfährt und eine Distanz zum Geschehen schafft. Ja, es hat sich ganz zu Beginn des Streifens, unmittelbar nach der eingangs geschilderten Interview-Sequenz, ein Todesfall ereignet, und Hüllers Figur ist des Mordes angeklagt. Der Kniff des Films ist zum Einen die Verquickung von Realität und Fiktion (nicht nur im plot selbst, bei dem es ja darum geht, dass die Schriftstellerin den Stoff ihrer Romane allzu offensichtlich aus der Realität ihres eigenen Alltagslebens geschöpft hat - nein, es ist sicher kein Zufall, dass die beiden Protagonist:Innen des Films genau dieselben Vornamen tragen wie ihre realen Darsteller:Innen… was unter Anderem im Vorspann durch Kindheits- und Jugendfotos der Beiden, die entweder tatsächlich ihren realen Biografien entnommen oder aber geschickt bearbeitet worden sind, noch verstärkt wird), und des allmählichen Realisierens der schlichten Unmöglichkeit, das Eine vom Anderen irgendwie adäquat trennen zu können, bzw. des Sich-klar-Werden-Müssens, dass eine solche scharfe Trennlinie auch gar keinen Sinn ergeben würde, aufseiten der Zuschauer:Innen andererseits. Was nun objektive Wahrheit ist, und was nur Lüge / bloße Behauptung, das ist weder von der Jurisdiktion, noch von uns als Publikum jemals ergründbar. Beide sind sie fester Bestandteil ein und derselben Wirklichkeit, werden subjektiv-individuell je anders „wahr“-genommen und herausgeformt, und dennoch muss Jede und Jeder letztlich selbst entscheiden, wie er oder sie damit umgehen und sich dazu verhalten möchte.
„Wenn man alles Machbare getan hat, um die Wahrheit zu ergründen, und nichts mehr weiter herausfinden kann, und dennoch sowohl die eine als auch die andere Sichtweise möglich erscheinen, dann wird man sich dennoch entscheiden müssen.“, heisst es an einer zentralen Stelle des Films. In eben dieser Wahl liegt die (clevere) Crux von „Anatomie…“: Nicht nur die Geschworenen im Gericht, nicht nur Sandras Sohn als einziger (Fast-)Zeuge und der mit ihr ein bisschen zu sehr befreundete Strafverteidiger, nein, auch wir als Zuschauende sehen uns gezwungen (oder vielleicht auch nicht?), uns zu entscheiden: Glauben wir der Angeklagten, halten wir sie für unschuldig, oder nicht? Und wenn ja, auf Basis welcher Fakten, wenn doch die Fakten als solche ganz offensichtlich keine sind, sondern eben immer nur Auslegungssache, bei jeder behaupteten „Wahrheit“ immer noch ein Quentchen Interpretations-Spielraum offenbleibt?
Seine stärksten Momente hat der Film vor Allem immer dann, wenn er vom reinen court room drama weg und auf intim-emotionale Augenblicke hinschwenkt… eine Dialogszene von Angeklagter und Verteidiger im nächtlichen Schnee, bei der ein wenig zuviel Alkohol im Spiel ist, eine superb eingebaute „Rückblende“ auf ein per Tonaufnahme mitgeschnittenes Streitgespräch des ganz offensichtlich äußerst zerrütteten Ehepaares, das immer mehr und mehr eskaliert und schließlich in Gewaltanwendung mündet (just in diesem Moment blendet die filmische Darstellung aus, und wir hören nur noch die Tonspur, wie sie im Gerichtssaal weiter abgespielt wird), einen befreienden Gefühlsausbruch während einer Autofahrt („Irgendwer hat mal gesagt, dass Geld vielleicht nicht Alles regeln kann - aber ist es immer noch besser, im Auto zu weinen, als im Zugabteil.“). Ganz stark auch das formidable Spiel des jungen Milo Machado Graner, der als sehbeeinträchtiger Sohn des Paares seine ganz eigenen Gründe hat, herauszubekommen, was wirklich geschah, und dessen Figur zum Ende trotz seines kindlichen Alters den vielleicht erwachsensten Umgang mit der Situation zeigt.
Aber dennoch, was wäre dieser Film ohne die jeder Beschreibung spottende, Alles Andere und alle Anderen in den Schatten stellende Ausnahme-Präsenz von Sandra Hüller? Wo sie bereits anno 2006 in „Requiem“ unter Beweis gestellt hat, dass mit ihr als einer der (damals) zukünftig besten Schauspielerinnen Deutschlands zu rechnen sein würde, man sie allerspätens mit „Über uns das All“ (und vermutlich auch dem von mir ungesehenen „Toni Erdmann“) zu der Riege der europaweit besten Schauspielerinnen hinzuzählen musste, da ist spätestens mit dieser fulminant-einmaligen Performance klar, dass Hüller zu den besten Schauspielerinnen ihrer Generation gehört. Weltweit. Für mich persönlich sowieso seit Jahren schon die beste (noch lebende) actrice. Hat mich aber damals als Michaela Klingler schon so umgehauen, dass ich aus dem Staunen gar nicht mehr herausgekommen bin. Was sie hier und jetzt aber nochmal mehr in die Waagschale (und sich in ihre Figur) wirft, ist schlichtweg unfassbar, und muss man einfach mit eigenen Augen gesehen haben. Andernfalls verpasst man die womöglich beste schauspielerische Leistung des Jahres. In jedem fein nuancierten Zucken der Mundwinkel, in jeder irrlichternd-flackernden Suchbewegung der Augen, in jedem traurig-trotzig halb nach innen, halb in die Ferne gerichteten Blick von Hüller liegt eine ganze Welt verborgen. Eine terra incognita ihrer jeweiligen Figur, die (wenn überhaupt) nur sie kennt, die sie eifersüchtig hütet, vehement vor dem Zugriff Anderer verteidigt. Weil sie diesen „Rest“ der Figur, der trotz aller schauspielerischen Hin- und Selbstaufgabe immer verbleiben muss (wie es Jens Harzer in seiner Laudatio so überaus treffend formuliert hat), für ihr Handwerk so dringend braucht wie Andere die Luft zum Atmen, weil es für ihre performance so ungeheuer wichtig ist wie vielleicht für kaum eine andere Schauspielerin. In „Anatomie…“ ist dieser Rest besonders groß. Ja, er ist bereits qua Skript schon in die Figur eingeschrieben. Und aus diesem Spalt, diesem Abgrund zwischen dem, was wir über die und von der Figur wissen, und dem Rest-Anteil, zu dem wir keinen Zugang haben und den wir nicht kennen, dafür aber umso stärker ergründen wollen, ergibt sich eine ungeheure Spannung und Reibung. Die Eine:n als Zuschauende:n fast kirre machen kann. Trotz oder vielleicht auch gerade weil man sich der Anmaßung und Vergeblichkeit, All About Sandra (Voyter) wissen zu wollen, bewusst ist. Und es aber dennoch umso mehr will. Das Drehbuch spielt geschickt damit, führt uns perfide vor, dass sich weder aus den Dialogen / Aussagen noch den geäußerten Gefühlen der Figuren eine letzte Wahrheit ableiten lässt. „Es wird zu nichts führen“, sagte Hüller in ihrer Dankesrede. Und doch führt es zu soviel.
Ganz am Ende des Films, und ja, dies hier ist jetzt sowas wie ein !!! ACHTUNG !!! Spoiler !!!, sagt Hüllers Figur zu ihrem Anwalt: „Ich dachte, wenn man gewinnt, dann müsste man doch eine Art Belohnung erhalten. Aber nein, es ist einfach nur vorbei.“
Der Film ist dann nach gut zweieinhalb Stunden auch einfach vorbei. Ohne, dass wir der Wahrheit auch nur ein Stückchen näher gekommen wären.
Die Belohnung aber, die ist immens.